Erschienen in der taz

taz: Frau Kamerić, „No teeth? A mustache? Smell like shit? Bosnian girl!“, diese Sätze sprayte 1994/95 während des Bosnienkriegs ein unbekannter niederländischer Soldat auf die Wand der Armeekaserne in Potočari, Srebrenica. Bis zu 450 Blauhelmsoldaten waren in der ostbosnischen Kleinstadt stationiert, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Trotzdem konnten in der Woche des 11. Juli serbische Einheiten vor den Pforten der damaligen UN-Stellung ihre Opfer selektieren, mehr als 8.000 Bosniaken ermordeten sie bei Srebrenica. Ein Foto vom Graffiti des Soldaten überblendeten Sie für eines Ihrer Kunstwerke mit Ihrem Selbstporträt. Was ist die Geschichte hinter Ihrer Arbeit ­„Bosnian Girl“?

Šejla Kamerić: Der Fotograf Tarik Samarah zeigte mir damals seine Bilder aus Srebrenica. Über mehrere Jahre hinweg hatte er die Überlebenden des Genozids, die Exhumierung von Massengräbern, die Identifikation der Opfer und deren Wiederbestattung dokumentiert. Eines seiner Fotos zeigte ein Graffiti, das ein UN-Soldat, der während des Krieges in Srebrenica stationiert war, hinterlassen hatte. Die Botschaft dieses Graffiti hat mich tief bewegt. Sie traf mich auf einer persönlichen Ebene. Ich verwandelte sie in ein Plakat, gemeinsam mit einem Porträt von mir, das Tarik aufgenommen hatte. Ich wollte es im öffentlichen Raum, auf der Straße zeigen – ganz bewusst ohne die Beteiligung anderer Menschen oder Institutionen. Ich wollte die Last dieser Botschaft nicht auf andere abwälzen, ich wollte sie selbst tragen. Das war noch, bevor es soziale Medien in der Form gab, wie wir sie heute kennen. Doch durch Zeitungsanzeigen, Postkarten und Plakate wurde „Bosnian Girl“ fast augenblicklich bekannt. Ich kontaktierte verschiedene Medienhäuser und bat sie, das Bild zu veröffentlichen – und alle kamen dieser Bitte nach. Es gab jedoch auch Verwirrung und Kritik. Als die „Bosnian Girl“-Plakate am 11. Juli 2003 in den Straßen von Sarajevo auftauchten, waren manche Menschen schockiert. Die US-Botschaft in Bosnien ordnete an, dass alle Plakate in der Nähe der Botschaft entfernt werden sollten. Doch der bedeutendste Moment für mich war, als sich die Mütter von Srebrenica mit dem Bild identifizierten.

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Vermisst auf der Flucht nach Europa: Wo sind unsere Kinder?

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»Wir sind die Wächter dieser Erinnerungen«